Valenz

Eigenschaft eines Wortes, v.a. des Verbs, Leerstellen zu eröffnen, die mit anderen sprachlichen Ausdrücken gefüllt werden, damit ein semantisch vollständiger und grammatisch korrekter Satz entsteht. Lucien Tesnière mit seiner Schrift „Éléments de syntaxe structurale“ (1959/1980) gilt als Begründer der Dependenzgrammatik und hat für die Fähigkeit der Wörter, andere Wörter an sich zu binden, den aus der Chemie stammenden Terminus Valenz auf sprachliche Phänomene angewendet. Vor ihm stellte u.a. auch schon Karl Bühler (1934, 173) fest, „daß die Wörter einer bestimmten Wortklasse eine oder mehrere Leerstellen um sich eröffnen, die durch Wörter bestimmter anderer Wortklassen ausgefüllt werden müssen“. Erben (1980, 62) übertrug dann Ende der 1950er Jahre den Tesnièreschen V.begriff unter dem Aspekt der Wertigkeit auf das Deutsche. Das syntaktische Modell einer solchen Abhängigkeitsgrammatik basiert auf der zentralen Rolle des Verbs als Valenzträger, dem Regens, das Leerstellen eröffnet. Die Besetzung der Leerstellen erfolgt durch Ergänzungen – auch: Aktanten ( Aktant), Dependentien (Dependens), Mitspieler, Komplemente ( Komplement). Die Auswahl der vom Verb regierten Ergänzungen erfolgt sowohl nach syntaktischen als auch nach semantischen Kriterien. Auf der syntaktischen Ebene wird die geforderte Anzahl nominaler Ausdrücke nach morphosyntaktischen Merkmalen (NDat, NAkk, Npräp usw.) in ihren syntaktischen Funktionen (z.B. NNom/Subjekt, NAkk/Objekt usw.) realisiert. Die regierte Form der Aktanten bestimmt die Wertigkeit des Verbs (quantitative Valenz). Auf der semantischen Ebene wird der Zusammenhang von kategorialer Bedeutung (z.B. Sachverhalt, Eigenschaft, Tätigkeit) und semantischer Rolle (z.B. Agens, Patiens, Adressat) hergestellt, so dass die Kompatibiliät, die semantische Verträglichkeit, des vom Verb geforderten Ausdrucks gesichert und ein semantisch sinnvoller Satz erzeugt wird. Die Zahl der Ergänzungen entscheidet über die Wertigkeit des Verbs: avalente Verben (regnen0 Es regnet), monovalente Verben (schlafen1 -Hans schläft), divalente Verben (sehen2 – Hans sieht den Regenbogen), trivalente Verben (schenken3 – Hans schenkt Ina den Ring) Tesnière ging noch von maximal dreiwertigen Verben aus. Bei der Beschreibung des Deutschen müssen neben den Kasusobjekten in zunehmenden Maße Präpositionalobjekte ( Präpositionalobjekt) berücksichtigt werden, so dass Helbig/Buscha (1984, 557) auf 4-wertige Verben hinwiesen: Hans bringt der Schwester die Tasche ins Haus. Ergänzungen können Nominal-, Pronominal-, Präpositional-, Adjektiv- und Adverbphrasen ebenso wie Nebensätze und Infinitivkonstruktionen sein. Unter bestimmten Umständen können vom Verb geforderte Ergänzungen auch weggelassen ( Valenzreduktion) werden, ohne dass die Grammatikalität gefährdet ist. Diese Ergänzungen sind dann fakultativ und nicht obligatorisch: Der Sohnobligat.Aktanthilft2(+1)=3 dem Vaterobligat.Aktant bei der Gartenarbeitfak.Aktant . Die Intention des Sprechers entscheidet über die Reduzierung, ob der Vorgang durch das direkte Objekt konkret benannt oder durch dessen Weglassung der Zustand betont werden soll. ImUnterschied zu einer solchen „systematischen Bedeutungsvariation“ (Eisenberg 2006, 67) durch die vom Verb obligatorisch oder fakultativ geforderten Aktanten, werden die generell weglassbaren Angaben auch: freie Angaben (→ Angabe), Supplemente (→ Supplement) vom Verb nicht gefordert: HansNnom wartet2auf den StudentenNpräp seit zwei Stundenfreie Angabe geduldig freie Angabe an der Uni freie Angabe. Zwei Stunden, geduldig und an der Uni sind freie Angaben in der Form von Adverbialphrasen, die den Satz hinsichtlich der Zeit, der Art und Weise und des Ortes spezifizieren. Für die grammatische Korrektheit des Satzes sind sie jedoch nicht notwendig. Eine Unterscheidung von freien Angaben und Ergänzungen ist durch Testverfahren wie z.B. den Reduktionstest überprüfbar, bei dem Ausdrücke weggelassen werden können (→ Weglassprobe), ohne dass dies Auswirkungen auf die grammatische Richtigkeit des Satzes hätte. Wenngleich es bei der Unterscheidung von obligatorischen Ergänzungen und freien Angaben kaum Unsicherheiten gibt, erweist sich die Abgrenzung von fakultativen Ergänzungen und freien Angaben noch immer als Problem. Neben den Verben können auch Adjektive Ergänzungen verlangen und Valenzträger sein. Das Adjektiv stolz verlangt eine → Präpositionalphrase wie auf den Erfolg, die obligatorisch ist. Auch deverbative und deadjektivische Substantive verfügen über V. Die V. von Substantiven ist aber syntaktisch nicht auf eine Stellenzahl festzulegen, weshalb die Aktanten stets fakultativ sind. Wir hoffen auf Frieden. Die Hoffnung auf Frieden ist grenzenlos (anders als beim Verb wäre auf Frieden hier syntaktisch weglassbar). V. ermöglicht syntaktische Differenzierungen, die inzwischen detailliert in Valenzwörterbüchern für Verben, Adjektive und Substantive erfasst worden ist.

Lit.: Ágel, V./Eichinger, L./Eroms, H.W. et al., Dependenz und Valenz / Dependency and Valency. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. 2006. Bühler, Karl, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. 1934. Eisenberg, P., Grundriß der deutschen Grammatik. Band 2: Der Satz. 2006. Erben, J., Deutsche Grammatik. Ein Abriss3. 1980. Helbig, G., Probleme der Valenz- und Kasustheorie. 1992. Ders.,/Buscha, J., Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 2002. Ders./Schenkel, W., Wörterbuch zur Valenz und Distribution deutscher Verben.1983. Heringer, H.J., Neues von der Verbszene. In: Stickel, G. (Hrsg.), Pragmatik in der Grammatik. 1984. Hölzner, M., Substantivvalenz. Korpusgestützte Untersuchungen zu Argumentrealisierungen deutscher Substantive. 2007. Jacobs, J., Syntax und Valenz. 1992. Kubczak, J., Zum neuen Mannheimer Valenzwörterbuch deutscher Verben (VALBU). In: Engel, U/Meliss, M. (Hrsg.), Dependenz, Valenz und Wortstellung. 2004. Tarvainen, K., Einführung in die Dependenzgrammatik. 22000. Tesnière, L., Eléments de syntaxe structurale. 1959. Dt. Grundzüge der strukturalen Syntax. Hrsg. u. übersetzt von Ulrich Engel. 1980. Welke, K., Einführung in die Valenz- und Kasustheorie. 1988. Ders., Valenzgrammatik des Deutschen. Eine Einführung. 2011. Zifonun, G./Hoffmann, L./Strecker, B./Ballweg, J./Brauße, U./Breindl, E./Engel, U./Frosch, H./Hoberg, U./Vorderwülbecke, K., Grammatik der deutschen Sprache. 1997. KP

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