Satem-Sprachen

28.03.2016 -  

[engl. satem languages, frz. langues satem, russ. языки «сатем»]

Eine der beiden idg. Sprachengruppen. Im Anschluss an P. v. Bradke (1890) hat man seit dem Ende des 19. Jh.s innerhalb der idg. Sprachen eine östliche Gruppe, die sog. S.-S., und eine westliche, die sog. Kentum-Sprachen, unterschieden. Diese Bezeichnungen enthalten als Kennwörter die Ausdrücke für die Zahl ‘100’ im Altpers. (satem) und im Lat. (centum; mit [k] zu sprechen). Beide gehen auf idg. *m̥tóm ‘100’ zurück. Die beiden Sprachgruppen unterscheiden sich, wie die Wörter satem und centum zeigen, in der Behandlung der palatalen Okklusive *, *, *g̑ʰ des Idg. Während diese Phoneme in der Kentum-Gruppe Verschlusslaute bleiben, werden sie in der Satem-Gruppe einem Sibilierungs-(Verzischungs-)Prozess unterworfen. Zur Satem-Gruppe gehören Indoarisch, Iranisch, Baltisch, Slavisch, Armenisch und Albanisch, zur Kentum-Gruppe Germanisch, Keltisch, Italisch (einschl. Latein), Griechisch, Hethitisch, Phrygisch und Tocharisch. Parallel zu apers. satem sibiliert ist der anlautende Konsonant somit auch in altind. śatám, russ. sto, lit. šimtas ‘100’; wie in lat. centum nicht sibiliert ist er in griech. he-katon, toch. A känt, dt. (mit germ. Lautverschiebung) hundert. Ein weiteres Beispiel für palatales * bieten die einzelsprachlichen Belege des idg. Wortes für ‘Herz’: in den Kentum-Sprachen bleibt der Anlaut *k bewahrt (lat. cor, cordis, griech. kardía, altirisch cride, engl. [mit germ. Lautverschiebung] heart), in den Satem-Sprachen wird er sibiliert (lit. širdìs, russ. sérdce). Östl. Sibilierung und westl. Nicht-Sibilierung des idg. palatalen *g̑ʰ zeigen sich z.B. in der Entsprechung von dt. Gold und poln. złoto ‘Gold’ (dazu złoty ‘golden; Zloty’).

Man hat den Kentum-Satem-Ggs. jahrzehntelang für die früheste und zugleich grundlegende „Gabelung“ auf dem Wege der Aufgliederung des Gemein-Idg. hin zu den Einzelsprachen gehalten. Spätestens seit der Entdeckung des östlich gelegenen Hethitischen (Kleinasien) und des extrem östlich gelegenen Tocharischen (Nordwest-China) im frühen 20. Jh. und deren Identifizierung als idg. Kentum-Sprachen war diese Ansicht nicht mehr haltbar. Die Kentum-Satem-Differenz gilt heute nur noch als ein Isoglossen-Kontrast von vielen innerhalb der Indogermania, und auch nicht als der älteste. Die Hethiter und die Tocharer müssen bereits aus dem Zentralbereich der idg. Sprachen abgewandert gewesen sein, als die Sibilierung sich in den heutigen Satem-Sprachen auszubreiten begann. Das Baltische, das einige sehr altertümliche Gemeinsamkeiten mit dem Germanischen aufweist (u.a. die parallele, sehr eigenartige Bildung der Zahlwörter ‘11’ und ‘12’ im Lit. und Germ., lit.-germ. morphologische Gemeinsamkeiten beim Substantiv und beim Verb sowie auffällig enge Beziehungen in der Hydronymie), wird erst, als die deswegen zu postulierende alte Nachbarschaft der (prä-)baltischen Sprachen zum (Prä-)Germanischen nicht mehr bestand, von der Sibilierungswelle erfasst worden sein, denn das Germ. ist von dieser Neuerungswelle offensichtlich nicht mehr erreicht worden. Auch dies spricht gegen ein extrem hohes Alter des Kentum-Satem-Gegensatzes.

Okklusivlaut, Sibilierung, Germanisch, Germanische Lautverschiebung, Indogermanisch

Lit.: Bradke, P. von, Methode und Ergebnisse der arischen (indogermanischen) Altertumswissenschaft. 1890. Meier-Brügger, M., Indogermanische Sprachwissenschaft. 92010. Szemerényi, O., Einführung in die vergleichende Sprachwissenschaft. 41990 [Nachdruck 2004]. Tischler, J., Hundert Jahre kentum-satem-Theorie. In: Indogermanische Forschungen 95.1990, 63-98. HB 

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