Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft

Auch: Komparatistik. In der Bezeichnung „H.-v. S.“ ist die von der → Indogermanistik im frühen 19. Jh. begründete und seitdem stets fortentwickelte Forschungsmethode benannt: der systematische Vergleich von einander entsprechenden Laut- und Wortformen unterschiedlicher miteinander verwandter Sprachen zum Zweck der Rekonstruktion der diesen Formen gemeinsam zugrunde liegenden Strukturen in der → idg. Grundsprache, dem Ur-Idg. Da diese Methode das zentrale Arbeitsverfahren indogermanistischer Forschung ist, wird die Bezeichnung „H.-v. S.“ oft auch synonym zu „Indogermanistik“ gebraucht, obwohl auch jüngere Fachdisziplinen (etwa: Finnougristik, Semitistik) nach eben dieser Methode arbeiten und das Attribut „historisch-vergleichend“ daher gleichermaßen verdienen.

Neben dem historisch-vergleichenden Verfahren, bei dem einander korrespondierende Elemente aus verschiedenen Sprachen zugrunde gelegt werden („externer Vergleich“), bedient sich die Indogermanistik auch der Methode der sog. „inneren Rekonstruktion“, die mit entsprechenden Elementen nur einer Sprache arbeitet („interner Vergleich“). Ein Beispiel: Bereits der interne Vergleich der dt. Wörter sehen (mit stummem h gesprochen) und Sicht ergibt wegen des deutlich hörbaren velaren Spiranten [ç] in Sicht, dass das <h> von sehen der geschriebene Reflex eines ursprünglich auch im Infinitiv vorhanden gewesenen tektalen Frikativs (→ Frikativ) sein muss (und nicht bloß ein erst neuzeitlich eingefügtes Silbengrenzen-Markierungs-<h> ist wie in mähen, das als Verbalabstraktum Mahd – ohne hörbares h – neben sich hat). Ein Blick ins Ahd. bestätigt die Vermutung: Dort lauten die betreffenden Formen sehan, siht (mit tektalem Frikativ), aber mâen, mâda (ohne). Bis hierhin führt in diesem Fall der interne Vergleich. Genaueren Aufschluss über die Qualität des hier in Betracht stehenden Konsonanten gibt der extern-vergleichende Blick über die Grenzen des Dt. hinaus ins Germanische (got. saíhwan ‘sehen’) und über dessen Grenzen hinaus in andere idg. Sprachen (lat. sequi, griech. hépesthai ‘folgen’). Aus den Konsonanten got. -hw-, lat. -qu- und griech. -p- lässt sich schließen, dass das -h- im dt. Verbum sehen die Kontinuante eines hier vorliegenden ur-idg. Labiovelars *ku ist und dass als ur-idg. Wurzel des Verbums somit die Lautfolge *seku- ‘folgen’ angesetzt werden muss. Außerdem ergibt sich für die Bedeutungsgeschichte des Wortes sehen, dass die Tätigkeit des Sehens in älterer Zeit als ein Mit-den-Augen-Folgen aufgefasst worden ist.

Lit.: Meier-Brügger, M., Indogermanische Sprachwissenschaft. 82002. HB

Letzte Änderung: 17.01.2024 - Ansprechpartner: Webmaster