Bilingualismus

Auch: → Zweisprachigkeit. Die Fähigkeit, abwechselnd zwei Sprachen zu gebrauchen, „die an solcher Praxis beteiligten Personen werden zweisprachig genannt“ (Weinreich 1977, 15). Zweisprachigkeit in einem weiteren Sinne ist die Fähigkeit zur Nutzung sprachlicher Varietäten (z.B. Dialekte) innerhalb einer Sprache, was auch als „innere Mehrsprachigkeit“ (Wandruszka) bezeichnet wird (vgl. Apeltauer 2001, 628).

Die Praxis des alternierenden Gebrauchs zweier Sprachen tritt sowohl als individuelles als auch als kollektives Phänomen in Erscheinung (vgl. Bausch 1995, 83). Neben dem individuel­len B. existiert die als → Diglossie bezeichnete funktionale, gesellschaftliche oder kollektive Zweisprachigkeit als Wirkung des Sprachkontaktes zwischen und innerhalb von Sprachgemeinschaften. Beide Erscheinungsformen sind durch eine „kontinuierliche Instabilität“ (Bausch 1995, 82) gekennzeichnet, das betrifft sowohl die sprachliche → Kompetenz als auch die „funktionale Reichweite“ (ebd.). Die individuelle Zweisprachigkeit kann aufgrund der Komplexität aller sie charakterisierenden Merkmale und Relationen mittels unterschiedlicher Klassifizierungskriterien beschrieben werden:

  1. Die Fähigkeit zum abwechselnden Gebrauch zweier Sprachen spiegelt sich in ver­schiedenen Graden der Sprachbeherrschung wider. Neben dem „individuellen Gefühl, in beiden Sprachen zu Hause zu sein, d.h. „dem Bewusstsein der Zweisprachigkeit“ (Kielhöfer/Jonekeit 1995, 11) als entscheidende Instanz für dieselbe im Allgemeinen, lassen sich verschiedene Formen von Zweisprachigkeit im Sinne einer konkreten Kompetenz unterscheiden.

    a) Balancierte Zweisprachigkeit kennzeichnet Individuen, die „über zwei Erstsprachen verfügen“ und jederzeit problemlos von einer Sprache in die andere wechseln können, „ohne an Grenzen zu stoßen“ (Apeltauer 2001, 692).

    b) Normale Zweisprachigkeit ist gegeben bei Menschen, die über eine dominante oder starke Sprache (vgl. Kielhöfer/Jonekeit 1995, 12) verfügen, in der sie sich differenziert ausdrücken können. Die zweite oder schwache Sprache wird ebenfalls flüssig gesprochen, jedoch sind die Ausdrucksmöglichkeiten in ihr eingeschränkter.
    Der zweckgerichtete und situationsabhängige Gebrauch der beiden Sprachen bei normalen Zweisprachigen wird als funktionaler B. bezeichnet (vgl. Apeltauer 2001, 631). Die Fertigkeiten Hören, Lesen, Sprechen, Schreiben sind bei normalen Zweisprachigen unterschiedlich ausgebildet. Wird die zweite Sprache nur rezeptiv beherrscht, liegt eine Sonderform des funktionalen B. vor, die als rezeptiver B. bezeichnet wird. Produktiver B. schließt die Ausbildung produktiver und rezeptiver Fertigkeiten ein.

    c) Semilingualismus (Halbsprachigkeit) ist eine Form von B., bei der die Individuen in keiner der beiden Sprachen über eine altersgemäße Sprachkompetenz – gemessen an Monolingualen – verfügen (vgl. ebd.). Die Ursachen dafür sind weniger sprachlicher denn sozialer und politischer Natur (vgl. Lüdi 1996, 236).
    Führen beim Erwerb einer zweiten Sprache ungünstige politische und soziale Faktoren und Bedingungen zur Vernachlässigung/Verkümmerung der Erstsprache, was sich wiederum negativ auf den Zweitspracherwerb auswirkt, entsteht subtraktiver B. (vgl. Apeltauer 2001, 633). Was den Faktor Interdependenz in der Entwicklung beider Sprachen betrifft (vgl. ebd.), so existiert auch die Möglichkeit des Zweitspracherwerbs ohne Vernachlässigung der Erstsprache. Im Fall des sogenannten additiven B. kommt es zur Erweiterung der sprachlichen Kompetenz, der kognitiven und sozialen Fähigkeiten des Lerners insgesamt.

  2. In Bezug auf das Alter und die Reihenfolge des Spracherwerbs lassen sich folgende Zweisprachigkeitsformen unterscheiden:

    a) Werden „von Geburt an unter natürlichen Bedingungen zwei Muttersprachen erworben“, wird dieser simultane oder doppelte Erstsprachenerwerb als frühkindlicher B. bezeichnet (vgl. Kielhöfer 1995, 432; Kielhöfer/Jonekeit 1995).

    b) Die sukzessive Aneignung einer zweiten Sprache ab dem 3. Lebensjahr bis zur Pubertät wird als Zweitspracherwerb (ZSE) des Kindes, nach der Pubertät als ZSE des Erwachsenen bezeichnet (vgl. Klein, W. 1992, 27).

  3. Die Art und Weise, wie zwei Sprachen erlernt werden (gleiche oder verschiedene Kontexte), sowie die damit im Zusammenhang stehende Form ihrer Speicherung, d.h. der mentalen Repräsentation im zweisprachigen Individuum, führen seit Weinreich (1953) und nachfolgend Ervin und Osgood (1954) zu einer umstrittenen Unterscheidung (vgl. Grosjan 1982, 240ff.; Klein 1992) von zusammengesetztem oder kombiniertem B. und koordiniertem B. Koordinierter B. tritt demnach ein, wenn die Sprachen in verschiedenen Kontexten (z.B. im Elternhaus und dann im Ausland) erlernt wurden. Schulischer Spracherwerb sowie bilingualer Erstsprachenerwerb haben dagegen zusammengesetzten B. zur Folge. Diese verschiedenen Erwerbsformen führen zu unterschiedlichen Formen der Bedeutungsrepräsentation (vgl. Klein 1992, 24).

Die auf Penfield (Penfield/Roberts 1959) und nachfolgend Lenneberg (1967) zurückgehende Theorie einer „kritischen Spanne“ (etwa vom 2. Lebensjahr bis zur Pubertät) des mono- bzw. bilingualen Erstspracherwerbs und des Zweitspracherwerbs bis zur Pubertät führte in den darauffolgenden Jahrzehnten zu kontroversen Hypothesen über das „beste Alter“ und die damit verbundenen spezifischen Lernwege des Zweit- bzw. Fremdspracherwerbs (vgl. Klein 1992 ff.; Bausch 1995, 85).

Die Bewertung der individuellen Zweisprachigkeit hat in der Fachliteratur eine Wende erfahren. Während vor 1950 die Negativurteile überwogen, werden seither überwiegend die Vorzüge der Zweisprachigkeit in vielen Studien hervorgehoben (vgl. Kielhöfer 1995).

→ Zweitsprachenerwerb

Lit.: Apeltauer, E., Bilingualismus-Mehrsprachigkeit. In: Helbig, G./Götze, L./Henrici, H.-J./Krumm, H.-J. (Hrsg.), Deutsch als Fremdsprache. Ein internationales Handbuch. 1. Halbbd. 2001, 628-638. Bausch, K.-R., Zwei- und Mehrsprachigkeit. In: Bausch, K.-R./Christ, H./Krumm, H.J. (Hrsg.), Handbuch Fremdsprachenunterricht. 31995, 81-87. Ervin, S./Osgood, Ch. E., Second language learning and bilingualism. In: Journal of Abnormal and Social Psychologie 49, Suppl., 139-146. Grosjean, F., Life with two Languages: an Introduction to Bilingualism. 1982. Hamers, J.F./Blanc, M.H.A., Bilinguality and bilingualism. 2000. Kielhöfer, B., Frühkindlicher Bilingualismus. In: Bausch, K.-R. (Hrsg.), Handbuch Fremdsprachenunterricht. 31995, 432-436. Kielhöfer, B./Jonekeit, S., Zweisprachige Kindererziehung. 1995. Klein, W., Zweitspracherwerb. 1992. Lenneberg, E., Biological Foundations of Language. Lüdi, G., Mehrsprachig­keit. In: Goebl, H. (Hrsg.), Kontaktlinguistik: ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbbd. 1996, 233-245. Penfield, W./Roberts, L., Speech and Brain Mechanism. 1959. Wei, Li (ed.), The Bilingualism Reader. 2000. Weinreich, U., Sprachen im Kontakt. Ergebnisse und Perspektiven der Zweisprachigkeits­forschung. 1977. Wode, H., Erwerb und Vermittlung von Mehrsprachigkeit. In: Goebl, H. (Hrsg.), Kontaktlinguistik: ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbbd. 1996, 284-295. UH

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