Ergebnisse
Die Studien im Rahmen des Projektes haben vielzählige Ergebnisse erbracht, von denen hier eine kleine Auswahl kurz zusammengefasst wird:
Grenzziehungspraktiken:
Besonders bedeutsam sind sprachliche Grenzziehungspraktiken, die von den Wissenschaftler:innen betrieben werden. Obwohl sich sowohl die Wissenschaftler:innen als auch die Politiker:innen (besonders zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020) ihrer jeweiligen Rollen und Aufgaben bewusst sind – es gilt die Prämisse: Wissenschaft berät, Politik entscheidet –, diskutieren die Massenmedien darüber, wer in der Pandemie eigentlich das Sagen hätte und schreiben den Wissenschaftler:innen eine große politische Entscheidungsmacht zu. Dies zeigt sich auch in den Polit-Talkshows, in denen die Wissenschaftler:innen von den Moderator:innen dazu gedrängt werden, politische Bewertungen abzugeben. Dies wird aber mit Verweis auf die eigene Kompetenz, die im virologischen, nicht aber im politischen Bereich liegt, in den meisten Fällen blockiert, wodurch die Grenze zwischen Politik und Wissenschaft gezogen und verfestigt wird.
Bemühen um ‚gute‘ Wissenschaftskommunikation:
Unsere Studien haben gezeigt, dass sich die tatsächlich praktizierte Wissenschaftskommunikation der untersuchten Wissenschaftler:innen sehr stark mit den Leitlinien guter Wissenschaftskommunikation deckt, wie sie z.B. Wissenschaft im Dialog[1] zusammengetragen hat. Dazu gehören etwa Evidenzorientierung, Sachlichkeit, Ehrlichkeit, sowie der Verzicht auf Dramatisierung ebenso wie auf das Schüren unbegründeter Hoffnung. Dabei ist auch der offene Umgang mit (Noch-)Nichtwissen kennzeichnend: Die Wissenschaftler:innen geben zum Zwecke der Transparenz stets an, welches Wissen bereits gewonnen und wissenschaftlich abgesichert wurde und wo noch (überwindbare) Wissenslücken bestehen. Gerade aber dieser offene Umgang mit (Noch-)Nichtwissen hat stellenweise – so die Kritik der Wissenschaftler:innen – dazu geführt, dass sich die Politik hinter der Wissenschaft versteckt und fehlende Maßnahmen mit dem (Noch-)Nichtwissen gerechtfertigt habe. Auch die mediale Berichterstattung hat diese transparente Kommunikation des Nichtwissens seitens der Wissenschaftler:innen genutzt, um die Glaubwürdigkeit und den Nutzen von wissenschaftlicher Forschung in Frage zu stellen. Diese Entwicklungen haben in der Folge bei den Wissenschaftler:innen dazu geführt, dass sie die stets gezogene Grenze zur Politik, die sich in der Verweigerung politisch bewertender Statements gezeigt hat, im Verlauf der Zeit selbst eingerissen haben.
[1] https://www.wissenschaft-im-dialog.de/fileadmin/user_upload/Ueber_uns/Gut_Siggen/Dokumente/Leitlinien_zur_guten_Wissenschafts-PR.pdf
Unbehagens- und Frustrationsäußerungen:
Im Verlauf der Zeit werden Äußerungen von Unbehagen und Frustration immer lauter. Haben die Wissenschaftler:innen zu Beginn der Pandemie primär erklärt, wie das Virus aufgebaut ist, wie es sich verbreitet und wie man sich womöglich dagegen schützen kann, aber auch dargelegt, wie wissenschaftliche Forschung vonstattengeht und welche Aufgabe die Wissenschaft in dieser Pandemie hat (Stichwort: Grenzziehung), wandelt sich dies im Verlauf der Zeit zusehends. Zum einen wird die Medienlogik bemängelt, die die virologisch-epidemiologische Komplexität nicht nur drastisch reduziert darstelle, sondern auch Machtkämpfe zwischen den einzelnen Wissenschaftler:innen konstruiere und somit die Gesellschaft (noch weiter) verunsichere. Zum anderen wird die Politik mitunter harsch kritisiert, die von der Wissenschaft konkrete Vorschläge zur Eindämmung des Virus erhalten, aber entweder zu zögerlich oder gar nicht gehandelt habe. Zunehmend zeigt sich somit eine Frustration über die Beratungsresistenz der Politik, der es, so der Vorwurf, eben nicht (nur) um den Schutz der Bevölkerung gehe, sondern um die Beliebtheit in der Bevölkerung.
Konsequenzen für zukünftige (massenmediale) Wissenschaftskommunikation:
Je stärker sich Wissenschaftler:innen in den öffentlichen Diskurs einbringen, desto normaler und selbstverständlicher wird die Rolle von Wissenschaft werden. Bevor diese ‚Normalisierung‘ aber eintreten kann, bedarf es einer deutlich kommunizierten Reflexion der unterschiedlichen Diskurspraxen, Diskursrollen und Erwartungshaltungen, sodass die Ansprüche, die z.B. seitens der Politik an die Wissenschaft gestellt werden können, dürfen und sollen, klar konturiert werden und nicht dazu führen, Aufgaben auszulagern. Inwieweit wissenschaftliche Diskursroutinen – also etwa der offene Umgang mit (Noch-)Nichtwissen und eine evidenzbasierte Begründungskultur – besonders in Krisensituationen für politisch sinnvoll bzw. gewünscht betrachtet werden, muss sich noch zeigen. Zudem sollten Wissenschaftler:innen stärker gefördert und ausgebildet werden, was eine an Öffentlichkeit, Medien und Politik gerichtete Wissenschaftskommunikation betrifft. Dadurch wären sie sich von Beginn an der kommunikativen Anforderungen bewusst und wären (besser) auf mediatisierte und politisierte Kommunikationssituationen vor dem Auge der Öffentlichkeit vorbereitet.
Publikationen:
(2021) Rhein, Lisa/Lautenschläger, Sina: Videobeitrag zum Thema ‚Was ist gute Wissenschaftskommunikation?‘, Format „Stimmen zur Wissenschaftskommunikation“ des Projektblogs WInCO – Wissenschaftsvermittlung in der Informationskrise um die COVID-19-Pandemie, https://www.uni-hildesheim.de/winco/wissenschaftskommunikation/
(2022) Lautenschläger, Sina/Rhein, Lisa: Der geordnete Rückzug. Sprachliche Grenzziehungen von Virolog*innen in Polit-Talkshow. In: Zeitschrift für angewandte Linguistik (ZfAL), Band 76, S. 64-92.
(2022) Rhein, Lisa/Lautenschläger, Sina: Wissenschaftskommunikation im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Medien: zur Aushandlung von Gesprächsnormen in Pressekonferenzen und Polit-Talkshows. In: Fachsprache. Journal of Professional and Scientific Communication 44.1–2, S. 20-39.
(2022) Lautenschläger, Sina/Rhein, Lisa: Kommunikative (Fehl)Leistungen: (In)Transparenz in Wissenschaft und Politik. In: Klimczak, Peter/Newiak, Denis/Petersen, Christer (Hrsg.): Corona und die „anderen“ Wissenschaften. Interdisziplinäre Lehren aus der Pandemie. Wiesbaden, Springer Vieweg, S. 45-60.
(2022) Lautenschläger, Sina/Rhein, Lisa: Zwischen den Welten? Karl Lauterbachs Rolle(n) in der Pandemie. In: Roth, Kersten Sven/Wengeler, Martin (Hrsg.): Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur, 01/2022, S. 58-82.
(2022) Rhein, Lisa/Lautenschläger, Sina: Editorial: Kritik an Wissen (gemeinsam mit Lisa Rhein). In: Rhein, Lisa/Lautenschläger, Sina (Hrsg.): Kritik an Wissen. Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur, 02/2022, S. 107-114.
(i. Dr. / 2023) Janich, Nina/Lautenschläger, Sina/Rhein, Lisa/Roth, Kersten Sven: Unbehagen und (politische) Positionierungen: wie Wissenschaftler:innen sich (nicht) positionieren. Erscheint in: Dang-Anh, Mark (Hrsg.): Politisches Positionieren. Sprachliche und soziale Praktiken. Winter Verlag, Reihe Akademiekonferenzen, Open Access & Print.
(angen. / 2023) Lautenschläger, Sina/Rhein, Lisa/Janich, Nina/Roth, Kersten Sven: „wir sind wundgescheuert tatsächlich alle“ – Wissenschaftskommunikation zwischen Anspruch und Frustration. Erscheint in: Gräf, Dennis / Hennig, Martin (Hrsg.): Corona und mediale Öffentlichkeiten.
(angen. / 2023) Rhein, Lisa/Lautenschläger, Sina: Expertise und Grenzziehung multimodal. Selbst- und Fremdpositionierung von Virolog:innen in Polit-Talkshows. Erscheint in: Bülow, Lars / Kabatnik, Susanne / Merten, Marie Louis (Hrsg.): Pragmatik multimodal. Tübingen, Narr Attempto Francke.
Rhein, Lisa/Janich, Nina (i. Dr.): Wissenschaftliche Expertise im Spannungsfeld zwischen Medienlogik und Politikberatung – linguistische Beobachtungen. Erscheint in: In: Decker, Frank: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft. Vandenhoeck & Ruprecht.
(i. V. / 2023) Rhein, Lisa/Janich, Nina/Lautenschläger, Sina/Roth, Kersten Sven: Handreichungen zur Wissenschaftskommunikation.
(i.V. / 2024): Lautenschläger, Sina/Roth, Kersten Sven: Von Göttern und Anti-Helden. Multimodale Identitätskonstruktionen von Wissenschaftler:innen im Corona-Diskurs. Erscheint in: Schwegler, Carolin/Stehen, Pamela (Hrsg.): Mediale Identitäten – multimodal und mehrsprachig. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi), Heft 3/2024.