Strukturelle Semantik
[engl. structural semantics, frz. sémantique structurale, russ. структурнаясемантика]
Auch: Strukturale Semantik. Auf der Hypothese von der strukturellen Analogie und quantitativen → Konsubstantialität von Ausdrucks- und Inhaltsseite des Zeichens (→ Zeichen, → Sprachzeichen) beruhende Bedeutungstheorie und -praxis des europäischen → Strukturalismus, der sich, im Ggs. zur Semantikvergessenheit des taxonomischen Strukturalismus, verstärkt der Bedeutungsanalyse gewidmet hat. Weil Bedeutung im Wesentlichen als Inhaltskontinuum (→ Inhalt) vorgestellt wurde, lag die Metapher bzw. das Beschreibungsmodell der „Struktur“ auf der Hand, die ihrerseits die Vorstellung eines systematischen Aufbaus aus (kleinsten) Elementen nahelegte. Dem Modell von der zerlegbaren Struktur entsprechend war es das Ziel der Strukturellen Semantik, die semantische Struktur des Wortschatzes auf der Grundlage der Analyse der inneren Bedeutungsstruktur der lexikalischen Elemente zu beschreiben, aus denen er sich zusammensetzt. In Analogie zum Verfahren der strukturellen → Phonologie (vgl. A. Martinets [1960] These von der „double articulation“, → doppelte Gliederung) wurde eine innere Gegliedertheit der Wortbedeutungen in nicht weiter segmentierbare semantische Minimaleinheiten, die Seme (→ Sem), angenommen. So könnte man die Bedeutung von Sohn in die Seme ‘Mensch’, ‘Nachkomme’, ‘männlich’ zerlegen. Vergleicht man diese Semverbindung mit den Bedeutungen von Tochter ‘Mensch’ ‘Nachkomme’, ‘weiblich’, Vater ‘Mensch’, ‘Elternteil’, ‘männlich’ und Opa ‘Mensch’, ‘Elternteil eines Elternteils’, ‘männlich’, so zeigt sich, dass alle diese lexikalischen Einheiten in dem paradigmabildenden semantischen Merkmal (→ Noem) 'Mensch' übereinstimmen, in den übrigen (den Semen) jedoch überwiegend differieren. Mit Hilfe weiterer Seme lässt sich – wie F.G. Lounsbury (1964; 1978) am Beispiel der Sprache der Seneca-Indianer gezeigt hat – das ganze Paradigma der Verwandtschaftsbezeichnungen semantisch aus Komponenten kombinieren und dessen innere Feldstruktur demonstrieren (vgl. dazu auch Gruber/Windhaber 2012). Obwohl sie (wie das Beispiel zeigt) in den linguistischen Beschreibungen nur je einzelsprachlich gegeben sind, wurden die semantischen Minimaleinheiten als ein universelles (und also kognitives) Inventar betrachtet, aus dem jedes einzelsprachliche → Lexikon spezifische Auswahlen trifft. Auch wenn die Existenz solcher Bedeutungs„atome” – trotz aller Bemühungen A. Wierzbickas (1972) – nie hat plausibel nachgewiesen werden können, hat die auf → Komponentenanalyse beruhende Vorgehensweise der Strukturellen Semantik analytisch präzise semantische Beschreibungen geliefert, wie sie sonst allenfalls gelegentlich in Wörterbüchern zu finden sind, und dabei Bedeutungsbeziehungen wie → Synonymie, → Homonymie und → Polysemie transparent gemacht. Besonders H. Henne/H.E. Wiegand (1969), H.E. Wiegand (1970) und Henne (1972) haben vorgeführt, wie sich auf der Grundlage der Strukturellen Semantik die semantischen Verfahren von → Semasiologie (2) und → Onomasiologie operationalisieren und systematisieren lassen. Zumindest E. Coseriu (1967) hat zudem versucht, den Ansatz der Strukturellen Semantik auf die syntagmatische Ebene anzuwenden, indem er an Beispielen wie Pferd und wiehern oder Baum und fällen zeigte, wie einzelne semantische Merkmale lexikalischer Einheiten deren Kombinierbarkeit mit anderen lexikalischen Einheiten bestimmen (→ lexikalische Solidarität). Wie schon in der Inhaltbezogenen Grammatik (→ Inhaltbezogene Grammatik, → Wortfeld) hat auch in der v.a. von Romanisten geprägten Strukturellen Semantik der interlinguale Vergleich der Wortschatzgliederungen und semantischen Mikrostrukturen von Einzellexemen breiten Raum eingenommen. Insofern sie alle in den Rahmen des strukturalistischen Paradigmas gehören, kann man in einem weiteren Sinne auch Wortfeldtheorie, → Generative und → Interpretative Semantik zur Strukturellen Semantik rechnen.
Lit.: Abraham,S./Kiefer, F., A Theory of Structural Semantics. 1966. Bierwisch, M., Strukturelle Semantik. In: Deutsch als Fremdsprache 6.1969, 66-74. Wiederabgedruckt in: Hoffmann, L. (Hrsg.), Sprachwissenschaft. Ein Reader. 3., aktualis. und erw. Aufl. 2010, 813-827. Coseriu, E., Einführung in die strukturelle Betrachtung des Wortschatzes. 1970. Ders., Probleme der Strukturellen Semantik. 1973. Geckeler, H., Strukturelle Semantik. und Wortfeldtheorie. 1971. Ders. (Hrsg.), Strukturelle Bedeutungslehre. 1978. Greimas, A.-J., Sémantique structurale. 1966. dt. Strukturale Semantik. 1971. Gruber, E.,/Windhaber, I., Das Wortfeld „Verwandtschaftsbezeichnungen“ diachron und kontrastiv. In: Wiener Linguistische Gazette 76A.2012, 92-130. Heger, K., Monem, Wort, Satz und Text. 21976. Henne, H., Semantik und Lexikographie. 1972. Henne, H./Wiegand, H.E., Geometrische Modelle und das Problem der Bedeutung. In: ZDL 36.1969, 129-173. Hjelmslev, L., Pour une sémantique structurale. In: Ders., Essais linguistiques. 1959, 96-112. Lounsbury, F.G., The structural analysis of kinship semantics. In: Proceedings of the Ninth International Congress of Linguistics. 1964, 1073-1090. Wiederabgedruckt in: Geckeler, H. (Hrsg.), Strukturelle Bedeutungslehre. 1978, 164-192. Lyons, J., Structural Semantics. An Analysis of Part of the Vocabulary of Plato. 1965. Martinet, A., Éléments de linguistique structurale. 1960. dt. Grundzüge der allgemeinen Sprachwissenschaft. 1963. Wiegand, H.E., Synchronische Onomasiologie und Semasiologie. In: Germanistische Linguistik 3.1970, 243-384. Wierzbicka, A., Semantic Primitives. 1972. Wotjak, G., Untersuchungen zur Struktur der Bedeutung. 1971. AB